Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
Thema: Flucht in die Vergangenheit
Die alten Gewissheiten des Fortschrittsglaubens an eine Entwicklung der Menschheit hin zu einer Welt ohne Hunger und Krankheiten, die Wohlstand und Frieden für eine freie Entfaltung eines jeden im Einklang mit der Natur ermöglicht, sind im 21. Jahrhundert zerbrochen. Stattdessen gewinnen rückwärtsgewandte Erinnerungen an das frühere, scheinbar bessere Leben an Glanz und werden zum Gesellschaftsmodell. Hattenhorst und von Elsner diskutieren, wie diese Flucht in die Vergangenheit in literarischer Fiktion konkret wird und uns damit einen Spiegel vorhält.
Thomas Hettche, Sinkende Sterne, Köln 2023
Der Ich-Erzähler, der wie der Autor Thomas Hettche heißt, fährt in die Schweiz, um sich nach dem Tod seiner Eltern um das geerbte, hoch in den Alpen über dem Rhonetal gelegene Chalet zu kümmern. Doch der Klimawandel hat nicht nur die Natur, sondern auch die politische Ordnung in eine Dystopie verwandelt. Ein Bergsturz hat den Fluss aufgestaut und weite Teile des Tales, Orte seiner Kindheit, sind im neuen See versunken. Der Zugang wird streng kontrolliert und das obere Wallis hat sich unabhängig von der übrigen Schweiz gemacht. Der Zugereiste ist nun einer mittelalterlichen Standesgesellschaft mit den alten Fahnen und Insignien der Macht, altertümlichen Titeln und einer undurchdringlichen, personenbezogenen Bürokratie der weltlichen und kirchlichen Würdenträger ausgeliefert. Der Fremde darf das Erbe nicht behalten und bleibt dennoch. Er erinnert sich an die Ferienaufenthalte mit seinen Eltern, an die erste kindliche Liebe zu einem gleichaltrigen Mädchen, das er nun als gestandene Frau wiedertrifft. Die persönliche Erinnerung an seinen Vater holt ihn ein, als er das Arbeitszimmer des Ingenieurs aus dem analogen Zeitalter inspiziert, und die Mythen und Sagen der grandiosen Alpenlandschaft begegnen ihm auf den Almen einer untergegangenen bäuerlichen Kultur.
Georgi Gospodinov, Zeitzuflucht, Berlin 2022 (TB 2023)
Der Autor nähert sich seiner rätselhaften Hauptfigur namens Gaustin behutsam an. Der Ich-Erzähler Gospodinov trifft ihn auf einem Literaturseminar in Bulgarien an der Schwarzmeerküste kurz vor dem Ende des kommunistischen Regimes und sucht die Nähe zu dem gleichaltrigen jungen Mann. Gaustin weist eine psychische Anomalie auf: Er lebt nicht in einem Zeitkontinuum, sondern wechselt die Umgebungszeit, weilt spielerisch in der einen oder anderen Epoche. Irgendwann im 20. Jahrhundert scheint die fortschreitende Zeit, der vorwärtsschreitende gesellschaftliche Wandel, seine Richtung verloren zu haben. Gaustin entschwindet in die Zeit vor dem Zeiten Weltkrieg, doch der Erzähler kommt ihm in Wien und dann in Zürich auf die Spur. Dort behandelt er in seiner neu eröffneten “Klinik für die Vergangenheit” Alzheimer-Patienten. Inmitten von Verwirrtheit und Angst bietet er ihnen Rituale und Stereotypen ihres früheren Lebens. Sie schaffen der verblassenden Erinnerung ein Geländer, trösten mit scheinbaren Gewissheiten, wie es immer richtig und vernünftig gewesen ist. Doch als sich auch gesunde Menschen für die Aufnahme in die Klinik interessieren und schließlich – auf Initiative der Europäischen Union – ganze Länder mit Hilfe des Arztes die heilende Kraft der Vergangenheit nutzen wollen, um in die glücklichste Epoche ihrer nationalen Größe zurückzukehren, tun sich Abgründe der Manipulation, des Machtmissbrauchs und des Nationalismus auf.