Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
Hat der Westen den Osten betrogen?
Hat der Westen den Osten betrogen? – Über die literarische und zeitgeschichtliche „Aufarbeitung“ der deutschen Vereinigung
Nach Literaturgesprächen über erzählte Erfahrungen und Prägungen in Ostdeutschland vor und nach 1989/90, versuchen Hattenhorst und von Elsner eine Art Zwischenbilanz zu ziehen anhand der Streitschrift von:
Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung – Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet, Berlin 2023,
sowie der zeitgeschichtlichen Analyse von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.
Beide Autoren sind 1967 geboren, waren also zum Zeitpunkt der friedlichen Revolution und der deutschen Vereinigung Anfang zwanzig. Die jungen Männer nutzten die neuen Chancen der Reisefreiheit und einer unzensierten geisteswissenschaftlichen Bildung – Oschmann ist heute arrivierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig, Kowalczuk hat sich als anerkannter Historiker und Experte kritisch in die Auseinandersetzung über die Ursachen bestehender Ungleichheiten zwischen West- und Ostdeutschland eingemischt und ist Autor der ersten umfassenden Biografie über Walter Ulbricht.
Beide schauen auf die Geburtsfehler der deutschen Einheit: der bloße Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zur Bundesrepublik und keine gemeinsam beschlossene Verfassung. Außerdem sind die Jahre der Transformation von der scheinbar alternativlosen Anpassung Ostdeutschlands an die politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Strukturen der Bundesrepublik bestimmt. Die Spitzenpositionen von Wirtschaft, Verwaltung oder Justiz bekleiden fast nur Westdeutsche, die ihre Nachfolger bis heute ebenfalls aus dem Westen rekrutieren. Westdeutsche Konzerne lassen einen eigenständigen Neuaufbau von Betrieben nicht zu, ostdeutsche Werke wurden wegkonkurriert, aufgekauft, stillgelegt oder zur verlängerten Werkbank. Der ostdeutsche Literaturprofessor ist ein weißer Rabe inmitten der Kollegen, die allesamt aus dem Westen stammen, und prangert an, wie die Selbstbefreiung des Ostens zum Sieg des Westens geworden ist.
Während Oschmann die permanenten Negativzuschreibungen des Westens über den Osten beklagt, und sich mit großem Furor gegen eine solche aufgezwungene „Ostidentität“ wehrt, geht Kowalczuks Kritik an der „Übernahme“ auch auf die unterschiedlichen Lebenswelten und Erfahrungsräume ein. Hätte es eine Alternative geben können, die Entwicklung eines demokratischen Sozialismus, der bürgerliche Freiheitsrechte und soziale Gerechtigkeit verbindet? 1990 verlangte jedoch die große Mehrheit die sofortige Ablösung der diktatorischen SED-Herrschaft: „Sie wollte alles sofort: Freiheit, Einheit, Wohlstand.“ Die DDR-Bürgerrechtsbewegung spielte plötzlich keine Rolle mehr. Angesichts der sozialen Kosten der Globalisierung und Deindustrialisierung – so Kowalzcuks These – verloren jedoch auch die aufgepropften Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates schnell das Vertrauen und traditionelle, autoritäre Denkmuster setzen auf scheinbar einfache Lösungen, die rechtsextreme Parteien verheißen.