Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch

Die DDR im Rückspiegel

3. Oktober 2024 | 45 Min.

Die DDR im Rückspiegel – Annährungen an die Lebensgeschichten ihrer Familien von Anne Rabe (geboren 1986) und Aron Boks (geboren 1997)

Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück, Stuttgart 2023

Die Autorin schreibt ihren autofiktionalen Roman aus der Sicht der gleichaltrigen Stine: Schemenhaft bleiben die wenigen Erinnerungsbilder des Kleinkindes an die Aufzüge der FDJ und Betriebsgruppen zum 40. Jahrestag der DDR 1989, aber konkret sind die Erfahrungen von Gefühlskälte einer Schwarzen Pädagogik in der Kita oder Grundschule. 1990 wird das Essen nicht mehr gekocht, sondern in Kübeln geliefert. Als Stine den klebrigen Riegel mit künstlichem Fruchtaroma zum Nachtisch nicht schafft und würgt, beharrt die Kindergärtnerin darauf, dass sie ihn trotzdem aufessen muss. „Das neue Land schmeckte anders, aber die Regeln, denen wir uns unterzuordnen hatten, waren noch dieselben.“

Stine liebt ihren Opa Paul, und begleitet den alten halbblinden Mann bei langen Sonntagsspaziergängen. Bruchstückhaft erzählt er, wie er nach der mörderischen Zeit in der Deutschen Wehrmacht gelobte: „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“, und seinen Teil beisteuerte zum Aufbau des Sozialismus in der DDR, dem „besseren Deutschland“. Stine spürt den Widerspruch zwischen dem propagierten humanistischen Menschenbild und der Willkür und Gewalt eines autoritären Obrigkeitsstaates; sie leidet unter der gewalttätigen, sadistischen Mutter. Sind die Prägungen aus der Nazi-Zeit – Gleichschaltung und Gruppenuniformität, Erziehung zum Krieg und die Traumata von Tod und Verderben – immer noch wirkmächtig? Inwieweit beeinflussten sie eine von der SED-Diktatur propagierte repressive Erziehung, die auf das Leitbild einer fügsam und freudig angenommenen sozialistischen Persönlichkeit ausgerichtet war?

Aron Boks, Nackt in die DDR – Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat.

Während Anne Rabe beschreibt, wie die strikte Überordnung von Staat und Gesellschaft aus früheren Zeiten in ihrer Familie nachwirkt und ihr Alter Ego Stine mühsam ihren Weg zu einem selbstbestimmten Leben findet, wird der elf Jahre jüngere Aron Boks scheinbar zufällig mit seiner Herkunftsgeschichte konfrontiert. Ostdeutschland und „dieses DDR-Ding“ war kein Thema in der Familie. Für ihn war der Mauerfall 1989 ein historisches Ereignis, gefühlt genauso weit weg wie die Mondlandung 1969. Als seine Großmutter auf dem Dachboden das frühe Gemälde „Die Heilige Familie“ ihres Onkels Willi Sitte wiederentdeckt und ihrem Lieblingsenkel Aron präsentiert, ist jedoch dessen Interesse geweckt.

Der wohl bekannteste Maler der DDR hat also nicht immer „diese riesigen, fast immer nackten und kraftvoll vor Fleisch strotzenden Menschen gemalt“, sondern im altmeisterlichen Stil begonnen. Aron fragt seine Großmutter nach dem politischen Aufstieg Sittes bis ins ZK der SED und erhält zur Antwort, dass er Sitte nur dann richtig kennenlernen würde, wenn er dessen ganzen Weg verstehe. Und Boks macht sich an die Recherche. Er lässt uns als Leser teilhaben, wie er Bibliotheken und Archive nutzt, in der Familie forscht und Sittes Künstlerkollegen als Zeitzeugen befragt. Als ihn ein Dokumentarfilmer in Sittes Geburtsort Kratzau im Sudetenland fragt, wie er sich seinem Urgroßonkel nähern wolle, sagt Boks: „Ich glaube, ich muss einfach erzählen, was ich erlebe.“ Aus seiner subjektiven Wirklichkeit heraus entsteht das Puzzlebild von Willi Sittes Leben, voller Krisen, Wandlungen und Erfolge. Zugleich entsteht eine Annäherung des jungen Autors an seine ostdeutsche Herkunft, die vor der „Entdeckung“ seines Urgroßonkels für ihn kein Thema war.

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