Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
Thema: Leiden an der Politik
Literaturgespräch mit Dr. Tobias von Elsner und Dr. Maik Hattenhorst
Wer leidet an der Politik? Beschlüsse der Parlamente und Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung gegen die Corona-Pandemie haben in der Gegenwart zu Freiheitseinschränkungen geführt, die so genannte Querdenker und Impfgegner nicht hinnehmen wollen. Ihr „Leiden an der Politik“ richtet sich gegen die Volksvertreter der parlamentarischen Demokratie. Hattenhorst und von Elsner nehmen jedoch Protagonisten in den Blick, die selbst unter existentiellen Druck geraten, weil sie sich auf die Politik einlassen. Drei Bücher – zwei Romane und ein autobiografischer Bericht – veranschaulichen unterschiedliche Lebenswelten:
Wolfgang Koeppen, Das Treibhaus, zuerst Stuttgart 1953, Frankfurt am Main 1972 (Suhrkamp Taschenbuch). – Zu Beginn der Ära Konrad Adenauers verabscheut der Abgeordnete Keetenheuve die Wiedereinsetzung von NS-Eliten in Führungspositionen und die Pläne zur Wiederaufrüstung und wird damit zum verzweifelten Außenseiter. Der Autor berichtet heftig und dringlich im Ausdruck, wie sich im Gedankenstrom seiner Hauptfigur die Erinnerungsfetzen an eigenes Versagen und Schuldgefühle aneinanderreihen, während er im „Nibelungenexpreß“ nach Bonn unterwegs ist. In der Hauptstadt trifft er auf den Kollegen im Menschenrechtsausschuss von der anderen Partei, dessen Herz-Jesu-Sozialismus ihm ebenso fremd ist wie das deutsche Nationalgefühl seines eigenen Parteivorsitzenden. Der Leser folgt Keetenheuve zwei Tage auf seinen Irrwegen durch Büros des Bundeshauses und der Alliierten, Restaurants und Weinstuben, erlebt seinen Ekel vor dem Schaufensterglanz des Wirtschaftswunders und ahnt: Seine persönliche Katastrophe ist nicht aufzuhalten.
Stefan Heym, Collin, zuerst München 1979, München 2005 (btb Taschenbuch) – In der DDR ist Hans Collin zum berühmten Staatsschriftsteller avanciert, doch Mitte der 1970er Jahre zwingen ihn Schreibblockaden und schwere psychosomatische Herzattacken in eine Klinik der Nomenklatura, wo ihn die Erinnerungen an sein Wegducken während der stalinistischen Schauprozesse 1957 bedrängen. Im Krankenhaus begegnen ihm die Gespenster aus der Vergangenheit leibhaftig: Auch der führende Mann des Auslandsgeheimdienstes Urack ist Patient bei Chefarzt Gerlinger. Und ausgerechnet der Kommandeur seiner Einheit aus den Tagen des spanischen Bürgerkrieges, Havelka, der bei den Prozessen Uracks Opfer gewesen ist und lange Jahre im Zuchthaus Hohenschönhausen einsaß, kommt regelmäßig in die Klinik, um seine schwerkranke Frau zu besuchen. Die Stationsärztin Dr. Roth, bei der alle Fäden der Romanhandlung wie in einem Knotenpunkt immer wieder zusammenlaufen, ermuntert Collin, den seelischen Ursachen für seine Herzattacken auf den Grund zu gehen. Soll er es wagen, auf die Schere im Kopf zu verzichten? Oder würde ihn dann der Bannfluch der Partei töten?
Susanne Gaschke, Volles Risiko, Was es bedeutet, in die Politik zu gehen, München 2014 – Susanne Gaschke ist eine erfolgreiche, angesehene Journalistin bei der ZEIT, ihr Parteibuch bei der SPD hat dabei kaum eine Rolle gespielt, als sie sich 2012 entschließt, auf die Seite der Politik zu wechseln. Die Quereinsteigerin wird zur Kieler Oberbürgermeisterin gewählt und scheitert – folgt man ihrem Bericht – an der fortgesetzten innerparteilichen Opposition und an der perfiden Scheinsolidarität ihres Amtsvorgängers und SPD-Ministerpräsidenten Torsten Albig. Teilweise erscheint ihr Bericht wie eine Anklage- und Rechtfertigungsschrift, der Leser gewinnt aber auch Einsichten in die Rolle der Medien, der „vierten Gewalt“, auf deren Klaviatur sie zuvor gespielt hat und der sie nun – aus ihrer Sicht – zum Opfer fällt.