Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
NS-Prägungen und Nazi-Widergänger in der frühen Bundesrepublik
NS-Prägungen und Nazi-Widergänger in der alten Bundesrepublik
In den Wiederaufbaujahren wollten viele Menschen die Schrecken des Krieges vergessen. Unter der Oberfläche der ersehnten bürgerlichen Normalität litten und haderten sie gleichwohl mit ihren körperlichen und seelischen Verletzungen. Moralische Rechtfertigungen mischten sich mit den Stereotypen der Nazi-Propaganda, und während die neue parlamentarische Demokratie die Entwicklung einer freien, offenen Gesellschaft ermöglichte, behielten viele Funktionsträger der alten Eliten in Justiz, Wirtschaft und Verwaltung ihre Machtpositionen. – Hattenhorst und von Elsner diskutieren drei Gesellschaftsromane, in denen das Leben der Hauptfiguren von diesen Erfahrungen in ganz unterschiedlicher Weise bestimmt wird.
Norbert Scheuer, Winterbienen, München 2019
Der Leser folgt dem Tagebuch des Lehrers und Imkers Egidius Arimont in Kall, einer Kleinstadt in der Nordeifel von Januar 1944 bis Mai 1945. Nach der NS-Machtübernahme wurde er wegen seiner Epilepsie sterilisiert und musste den Schuldienst aufgeben. Weiterhin bedroht von Euthanasie-Gesetzen und angewiesen auf den missgünstigen Apotheker, der ihm zu immer höheren Preisen die Medikamente zur Unterdrückung seiner Anfälle verkauft, schmuggelt er gegen Geld verfolgte Juden in seinen Bienenkästen über die nahe gelegene belgische Grenze. Er erhält seine konspirativen Anweisungen versteckt in Büchern der Stadtbibliothek. Als sich Arimont in die neue Bibliotheksaufsicht Charlotte, die Frau eines hohen NSDAP-Funktionärs, verliebt, die Fronten immer näher rücken und die Stadt zum Ziel heftiger Luftangriffe wird, droht er aufzufliegen.
Brigitte Glaser, Bühlerhöhe, Berlin 2016
Vor dem realen Hintergrund des Attentatsversuchs auf Adenauer im März 1952 und seiner Sommeraufenthalte im vornehmen Hotel Bühlerhöhe ab 1953 treffen aufeinander: Die aus Israel entsandte Holocaust-Überlebende Rosa Silbermann, die als Kind auf der Bühlerhöhe zu Gast war und mit ihrer Ortskenntnis den israelischen Geheimdienst bei der Verhinderung eines Attentats unterstützen soll, die misstrauische Hausdame Sophie Reisacher, die in der Liaison mit dem charmanten aber undurchsichtigen Schweizer Geschäftsmann Xavier Pfister hochfliegende Pläne hat, Pfisters Partner aus Tanger Abdul Nouradine, in dem die Rezeptionistin des benachbarten Landhotels Hundseck den Soldaten der französischen Armee erkennt, der sie und ihre Schwester am Ende des Krieges vergewaltigt hat, die Nähmaschinenfabrikbesitzer Fritsch und Frey, die nun ungeduldig auf die Beschlüsse zur Einführung der Bundeswehr warten und mit der Produktion neuer Sturmgewehre ins Geschäft kommen wollen, oder Hauptmann von Droste, Adenauers Sicherheitschef, der die „arisierte“ Villa der Silbermanns in Köln bewohnt.
Steffen Kopetzky, Monschau, Berlin 2021
Der Spiegel-Autor und Schriftsteller Steffen Kopetzky hat 2020 den Ausbruch der Corona-Pandemie zum Anlass genommen, sich an das Auftauchen einer anderen bedrohlichen Virus-Seuche zu erinnern: Die Pocken brachen Anfang 1962 in Monschau und der benachbarten Eifel-Region aus. Ein Ingenieur der Otto Junker GmbH hatte sie von einer Montagereise aus Indien eingeschleppt. Gut recherchiert, gewinnen in seinem Roman die Akteure an historischer Tiefe: Der alle Maßnahmen engagiert organisierende Facharzt Prof. Dr. Günter Stüttgen hat bereits als Sanitätshauptmann das Feldlazarett bei der Schlacht um den Hürtgenwald geleitet, im selbstlosen Einsatz auch verwundete amerikanische Soldaten versorgt. Sein Mitarbeiter Nikos Spiridakis hat als Kind auf Kreta die blutige deutsche Okkupation seiner Heimat miterlebt, während Direktor Seuss der im Roman Rither-Werke genannten Fabrik für Schmelzöfen und Hochtrocknungsanlagen die Kontinuität des Firmenaufstiegs in der NS-Zeit, seine Rolle als Wehrwirtschaftsführer und den nahtlosen Übergang zu einem führenden Unternehmen in der Bundesrepublik personifiziert.