Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
Thema: Sehnsuchtsorte - Utopien einer besseren Welt
Dr. Maik Hattenhorst, Historiker und Mitarbeiter der Stadtbibliothek, im Gespräch mit Dr. Tobias von Elsner, bis 2018 Kurator am Kulturhistorischen Museum und Literaturliebhaber.
Die Suche nach einer besseren Staatsform hat seit Thomas Morus‘ Utopie Vom besten Zustand des Staates oder von der Insel Utopia ein berühmtes literarisches Vorbild. Seitdem hat das Herbeischreiben von gesellschaftlichen Entwürfen für ein künftiges, gleichberechtigtes Zusammenlebens der Menschen, die selbstbestimmt ihre Talente entfalten und die zugleich in geschwisterlicher Fürsorge und im Einklang mit der Natur gegenwärtige Bedrohungen, Gewaltherrschaft und soziale Misere, überwinden, viele Dichter herausgefordert.
Anhand dreier Romane soll gezeigt werden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg phantasievolle Menschen Utopien als Ideenwelt in den Köpfen entwickeln. Die Inseln des Glücks werden jedoch von den politischen Realitäten überrollt, sind von vornherein nur herbeigezaubert, Luftschloss und schöner Traum, oder sie scheitern an menschlicher Trägheit, Aggression und missionarischem Eifer.
• Stefan Heym spinnt in seinem Roman Schwarzenberg eine historisch verbürgte Episode nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus, als ein größeres Gebiet um die Kreisstadt Schwarzenberg im nördlichen Erzgebirge bis zur tschechischen Grenze unbesetzt geblieben war. Auf dem herrschaftslosen Territorium versuchen einige überlebende Gegner des Nazi-Regimes, ihre Utopie einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen. Wie eine Insel des selbstbestimmten Neuanfangs ragt die Freie Republik Schwarzenberg zwischen die Fronten. Der Dichter entfaltet dann das ganze Szenario eines basisdemokratisch legitimierten Neunfangs, der allen Privilegien bei der Nutzung von öffentlichen Gütern und von staatlicher Macht einen Riegel vorschiebt. In der Rückschau des 1983 verfassten Buches hätte die Freie Republik Schwarzenberg für den Dichter wohl das Vorbild abgeben können für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der DDR.
• Das Jugendbuch Die glücklichen Inseln hinter dem Winde von James Krüss bezaubert bis heute auch erwachsene Leser mit seiner Erzählung vom „menschenfreundlichen“ Umgang aller Kreaturen miteinander, aber auch des Humors, der lustvoll das Anarchistische streift sowie eines Sprachwitzes, der die Seele wärmt. Bei völliger Gleichberechtigung von Tier und Mensch ist hier die Machtfrage ein für alle Mal gelöst; die Lebewesen wechseln sich in alphabetischer Reihenfolge ihres Gattungsnamens bei den Regierungsaufgaben ab. Schon klar, dass es keine Eilande gibt, die auf goldenen Flößen über die Weltmeere schwimmen, aber Ende der 1950er Jahre bot die Erzählung einen befreienden Blick auf eine Phantasiewelt jenseits von Sachzwängen des Wiederaufbaus und eigennütziger Anpassung an die Adenauer-Republik oder den SED-Staat.
• Lutz Seiler nimmt in seinem Roman Kruso die reale Insel Hiddensee im Sommer 1989 zum Schauplatz des Strebens nach persönlicher Entfaltung und Freiheit. Angezogen von diesem Versprechen, stranden hier illegale Urlauber und Menschen, die ihre Flucht über die Ostsee nach Dänemark planen, die so genannten Schiffbrüchigen. Doch Kruso ist kein Fluchthelfer, sondern im Gegenteil, er möchte die Menschen von dem selbstmörderischen Vorhaben abbringen, zur dänischen Nachbarinsel Møn zu schwimmen. Während des auf drei Tage begrenzten, heilenden Aufenthalts auf der Insel zeigt er ihnen, wie sie die Freiheit in sich selbst erspüren und eine innere Freiheit erlangen können. Die Erosion des DDR-Staates im Sommer 1989 hat auf Hiddensee erst jene Freiräume geschaffen, in denen Kruso sein Traumland für die Schiffbrüchigen verwirklicht, das dann mit dem weiteren Zerfall der alten Ordnung bis hin zur Grenzöffnung seinen Sinn verliert.