Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
Ostdeutsche Lebenswege – Biografische Brüche nach der Vereinigung
Ostdeutsche Lebenswege – Biografische Brüche nach der Vereinigung
Bleibt die Ost-West-Debatte über ostdeutsche Identität in einer Endlos-Schleife hängen, in der Vorurteile und Zuschreibungen variiert werden?
Für Hattenhorst und von Elsner bieten individuelle Lebensläufe in der literarischen Gestaltung die Chance auf ein Verständnis für das kulturelle Leben in der späten DDR, dem die deutsche Vereinigung ein Ende bereitete, sie erhellen die Abgründe von Jugendgewalt in den Nullerjahren, und sie zeigen die Verlorenheit einer Generation, die mit der Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und den westdeutschen Leitbildern des Konsums konfrontiert worden ist.
Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder, Frankfurt/Main, 2020
Der Antiquar Norbert Paulini betreibt in Dresden-Blasewitz eine Buchhandlung, die in den 1980er Jahren immer mehr Lesehungrige anzieht. Paulinis Schatz ist das Sortiment an Weltliteratur und deutschen Klassikern, die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind – Bücher, die grenzüberschreitende Räume eröffnen. Wir erfahren, dass Paulini schon immer nur Leser werden wollte, dass er – pausenlos lesend – die Erwartungen des DDR-Erziehungssystems unterlaufen hat, während seiner Dienstzeit in der NVA eine Nische in der Regimentsbibliothek findet und dank glücklicher Umstände sein eigenes Antiquariat 1977 eröffnen kann. Seine Lebensstrategie, nach außen angepasst und unauffällig zu leben, um staatsfern und jenseits gesellschaftlicher Erwartungen seiner Berufung als Antiquar zu folgen, wird jedoch durch den Mauerfall erschüttert.
Hendrik Bolz, Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften, Köln 2022
Hendrik Bolz berichtet über verdrängte, peinliche, schreckliche Jahre seines Lebens, von seiner Jugendzeit im Stralsunder Stadtteil Knieper West Ende der 1990er Jahre bis zu seinem Wegzug nach Berlin 2008. Eingeladen von einem alten Kumpel zu dessen Junggesellenabschied, ist Hendrik dreizehn Jahre später mit einem Berliner Freundespaar unterwegs in die alte Heimat. Die vergessen geglaubten Bilder ploppen wieder auf. Schon als Kind ging es nur darum, nicht „Opfer“ zu werden, sondern selber hart und unangreifbar zu sein. Unaufhaltsam die sich steigernde Abfolge des Drogenkonsums – von Feuerzeuggas schnüffeln über Alkohol, Cannabis und halluzinogenen Pilzen bis Kokain – und unaufhaltsam die Gewaltspirale, schwächere Jugendliche werden überfallen und zusammengeschlagen, sind Opfer sadistischer Quälereien, gefördert von offen bekennenden Neo-Nazis als Erzieher und Trainer und begleitet vom Soundtrack von „Böhse Onkelz“ oder „Bushido“.
Lukas Rietzschel, Raumfahrer, München 2021
In Kamenz, einer Kreisstadt nördlich von Dresden, gibt es schon viele „Lost places“ und das Krankenhaus wird bald dazugehören. Noch ist der junge Krankentransporteur Jan Nowak dort beschäftigt. Er wohnt bei seinem Vater im letzten Haus der neuen Einfamilienhaussiedlung im Schatten des „Dänischen Bettenlagers“, während die benachbarten Plattenbauten verfallen und nach und nach abgerissen werden. Als „der Alte“, ein Patient im Rollstuhl, den Jan regelmäßig zur Physiotherapie bringt, ihm kurz ein Porträtfoto zeigt, gerät die statische Welt der vom Vater gepflegten Rituale ins Rutschen. Handelt es sich bei dem Alten um einen Neffen des weltberühmten Malers Georg Baselitz und was hat dessen Familie mit Jans Eltern zu tun?